Es ist eine Horrorvorstellung für Eltern: Sie merken, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmt, doch die Ärzte zucken nur ratlos mit den Schultern. Eine verlässliche Diagnose bleibt lange Zeit aus, genauso wie ein Behandlungserfolg. Ein möglicher Grund: Das Kind leidet an einer seltenen Krankheit. Viele der rund 8.000 bekannten Vertreter stehen nicht einmal in Lehrbüchern, sind schlecht oder gar nicht erforscht. Bedeutet: Sie fallen schlichtweg durch das alltägliche Diagnoseraster.
Seltene Erbkrankheiten: eine Handvoll Patienten
Laut der Definition der Europäischen Union wird eine Krankheit als Rare Disease (engl. rare „selten“, disease „Krankheit“) eingestuft, wenn sie nicht mehr als fünf von 10.000 Personen betrifft. Obwohl die Zahl mit Blick auf die einzelne Erkrankung sehr gering ist, ist es die Gesamtzahl keineswegs: Allein in Deutschland leben geschätzt vier Millionen Betroffene, rund zwei Drittel davon sind Kinder und Jugendliche. Etwa 80 Prozent der Rare Diseases sind genetisch bedingt oder mitbedingt, nur vereinzelt sind sie heilbar. So manche der chronisch verlaufenden Krankheiten hat massive Folgeerscheinungen, wie Organschädigungen und stark lebenseinschränkende Begleitsymptome. Rund 30 Prozent der betroffenen Kinder versterben vor dem fünften Lebensjahr.
Langer Weg zur Diagnose
Charakteristisch für die „Seltenen“ ist eine Vielzahl an Störungen und Symptomen, die nicht nur bei jeder einzelnen Krankheit, sondern auch bei jedem einzelnen Patienten sich anders äußern können. Zu Beginn zeigt sich die Symptomatik häufig unspezifisch, sodass Beschwerden leicht fehldiagnostiziert werden. So wird beispielsweise eine Lungenfibrose oft mit Asthma verwechselt, oder ein heriditäres Angioödem (HAE) mit einer allergischen Schwellung von Körpergewebe. Bis die Diagnose für eine seltene Krankheit steht, vergehen im Durchschnitt etwa fünf Jahre. Zur frühzeitigen Diagnostik gibt es Screening-Programme, mit denen bestimmte seltene Erkrankungen zuverlässig erkannt und umgehend behandelt werden können. Das Neugeborenen-Screening erfasst 15 Zielerkrankungen, von denen die meisten selten sind.
Aufholjagd der Medizin
Die spärliche Verbreitung der einzelnen Erkrankungen erschwert aus medizinischen und ökonomischen Gründen auch häufig die Forschung und Entwicklung von Therapien. „Von 8.000 bekannten seltenen Erkrankungen sind rund zwei Prozent behandelbar. Das ist eindeutig zu wenig. Die Aufholjagd der Medizin hat gerade erst begonnen“, stellt Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen vfa, fest. Allerdings gebe es auch Positives zu berichten: So wurden seit dem Jahr 2000 rund 160 Orphan Drugs in der EU zugelassen, jedes Jahr kommen weitere hinzu. Derzeit arbeiten die forschenden Pharma- und Biotech-Unternehmen an mehr als 2.100 Medikamenten-Projekten. Mehr als 60 könnten innerhalb der nächsten vier Jahre zu weiteren Zulassungen führen.
Bessere Versorgung, mehr Daten
Auch in puncto Versorgung gute Nachrichten: In Deutschland gibt es inzwischen 32 spezialisierte Zentren zur Früherkennung und Behandlung von seltenen Erkrankungen. Manche von ihnen sind auf bestimmte Felder wie Nervenkrankheiten spezialisiert, andere decken eine große Bandbreite ab. Auch wichtig: die elektronische Patientenakte. Denn eine rar gesäte Erkrankung bedeutet immer auch, dass wenig Daten vorhanden sind. Hier ruhen viele Hoffnungen auf einer besseren (digitalen) Nutzung der Daten zu Forschungszwecken.
Fazit: Es hat sich viel getan für die einstigen Waisenkinder der Medizin – doch reichen die Vorstöße noch lange nicht. Die „Seltenen“ müssen noch mehr ins Scheinwerferlicht gerückt werden, damit in Zukunft noch mehr Betroffene eine Chance auf eine frühe Diagnose und adäquate Behandlung haben.